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Die Verkündigung

Das Leben in der Schneller Schule unterlag einem bestimmten Tages-, Wochen-, Monats -und Jahresablauf. Es waren die normalen Schultage, die Feiertage und die Ferientage. Von den Feiertagen waren Weihnachten und die Adventszeit mit Abstand  die wichtigsten und schönsten Zeiten für uns Schüler gewesen. Es gab nicht nur Geschenke. Es wurden in allen Klassen die wichtigsten Bibelstellen des alten und neuen Testamentes auswendig gelernt und vorgetragen. Weihnachtslieder wurden vierstimmig einstudiert und die Posaunen und Trompeten wurden für die Auftritte auf Hochglanz gebracht. Ich spielte die Tuba.  Alle Räume und Klassenzimmer wurden gereinigt und weihnachtlich geschmückt.  Die Weihnachtsgeschichte nach Lucas 2 wurde von allen Schüler auswendig gelernt und während der Festveranstaltung in der Kirche stellenweise von den verschiedenen Schulklassen stehend vorgetragen.    
Da meine Klassenkameraden in der Schule die  ältesten Schüler waren, haben wir jedes Jahr die alttestamentarische Prophezeiung nach dem Propheten Jesaja „Tröstet, tröstet mein Volk“, mit unseren tiefen Stimmen vortragen dürfen, worüber sich alle Gemeindemitglieder, Schüler und besonders unser geliebter und hochverehrter Direktor Hermann Schneller gefreut haben. Kurz gesagt, mit Beginn der offiziellen Weihnachtszeit und eigentlich schon ein halbes Jahr davor hatten wir in der Schule durchgehend Weihnachtsstimmung. Der Ausdruck „Verkündigung“ fiel in dieser Zeit sehr, sehr oft. Wir hatten Gefallen an dem Wort gefunden, weil es einmalig war und nur im Zusammenhang mit der Geburt Jesus und der harmonischen Weihnachtszeit benutzt wurde.      
Mit den Erinnerungen an diese Zeit und den Gedanken an die  Schule und mit den gesamten Ereignissen und Eindrücken im Kopf bin ich mit meinem Klassenfreund Emil Ode, mit dem ich vom ersten Schultag bis zum Abitur 1960 zusammen war, nach Tübingen gekommen, um dort Medizin zu studieren. Übrigens Kollege Ode, Facharzt für Nuklearmedizin, und ich Facharzt für Chirurgie, sind beide inzwischen im Ruhestand. In Tübingen angekommen, bemühten wir uns schon im ersten Semester Fleißprüfungen abzulegen, um die Zeugnisse mit den Anträgen für unsere Stipendium einzureichen. Eines Tages meldete sich schriftlich Frl. Sörensen, Sekretärin der Inneren Mission, bei uns in Stuttgart an. Sie  wollte uns in Tübingen in unserem Studentenzimmer in der Neckerhalde besuchen, um unsere Stipendiumsfähigkeit zu prüfen. Wir hatten sie zu Fuß vom Bahnhof abgeholt und in unserem Zimmer empfangen. Es war ein super Treffen. Sie war sehr angetan von uns. Wir haben uns in einem sehr gepflegtem deutsch über Geschichte, Theologie, Musik, Literatur, .Goethe, Schiller, Luther, Kant, Walter von der Vogelweide, Politik und vor allem über unsere finanzielle Lage und unsere Bedürfnisse unterhalten. Unsere finanziellen Möglichkeiten drohten nach einem Semester zu kollabieren.    
Zwei Wochen nach Frl. Sörensens Besuch, ich kam früher nach Hause als Emil, musste ich den ersten eingeschriebene Brief meines Leben empfangen. Ich konnte es kaum erwarten bis Emil nach Hause kam, um den Brief zu lesen. Nachdem ich die ersten drei Worte gelesen hatte, legte ich den Brief weg und fing an, vor Freude zu tanzen und zu singen. Mein Zimmernachbar und Emil hörten mein Freudengeschrei und eilten herbei, um sich nach der Ursache für den Ausbruch zu erkundigen. Ohne weitere Erklärungen, bot ich alle Hausbewohner arabische Süßigkeiten an, wie es im Orient so üblich ist, wenn etwas schönes geschieht. Dazu servierte ich Tee, und träumte von einer finanziell sorgenlosen Studienzeit. Jens, ein Mitbewohner und Jurastudent im siebten Semester war auch herbeigekommen, um sich die schriftliche Freudenbotschaft selbst anzusehen. Er nahm den eingeschrieben Brief an sich, las ihn richtig durch, und kommentierte schadenfroh: „ihr armen Schweine, euch ist gekündigt worden. Am  Monatsende müsst ihr das Zimmer verlassen.“ Ich wollte nicht glauben was Jens da sagte. Denn ich habe die frohe Botschaft selber gelesen und ich verstehe gut Deutsch. Ich nahm den Brief an mich zurück und las laut vor. „Bitte schön“, sagte ich, „hier steht es geschrieben. Hier mit kündige ich Euch zum ersten des nächsten Monats.“ Jens musste sich bemühen mir, einem Schneller-Schüler, den Unterschied zwischen „kündigen“ und „verkündigen“ klarzumachen. Ich dachte, unsere alten Hauswirtin mit ihrem schlechten Deutsch hätte sich verschrieben, und meinte statt Kündigung eigentlich Verkündigung.    
Auf arabisch gibt es kein Wort für „Kündigung“, weil es den Tatbestand der Kündigung nicht gibt. Und in der Schneller Schule waren wir fast das halbe Jahr mit der Geschichte der Verkündigung, Halleluja und der frohen Botschaft der Engel auf dem Hirtenfeld in meinem Geburtsort Beit Sahur beschäftigt. Das Wort Kündigung  hatte ich bis dahin in meinem Leben noch nicht gehört. Uns wurde zur Last gelegt, dass wir Damenbesuch auf unserem Studentenzimmer empfangen hatten, was laut Mietvertrag nicht erlaubt war. Also packten wir am Monatsende unser Hab und Gut auf die Fahrräder und sind entlang des Neckartals nach Kirchheim an der Teck über Nürtingen gefahren. Dort wohnten wir zwei Monate lang in einer Jugendherberge und machten das vorgeschriebene Medizin Praktikum im Kreiskrankenhaus.   
Was uns Frl. Sörensen mit ihrem Besuch in Tübingen angetan hat, weiß sie bis jetzt noch nicht. Ich hoffe aber, sie wird diesen Beitrag lesen und sich eines Tages melden. Sie hat uns aber sehr viel geholfen, und unser dank sei ihr gewiss.   
Im übrigen wir bekamen Emil und ich nach dem ersten Semester ein Stipendium für die gesamte Studiumszeit von der inneren Mission in Stuttgart, wofür wir sehr dankbar waren und sind.    
Basil Rischmaui, Morsbach, den 22.09.2008
Schnellerbuben
Schneller School Name in Arabic
Johann Ludwig Schneller Schule

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